Bedeutung

Bedeutung des Tiroler Schützenwesen

Anlässlich des 200jährigen Gedenkjahres 2009 wurde ein historischer Bericht über das Tiroler Schützenwesen wiedergegeben.Dieser wurde im Dezember 1945 durch den seinerzeitigen LOSM Dr. Anton von Mörl verfasst.


Bedeutung des Tiroler Schützenwesens

Ein Volk, das das von seinen Altvorderen ererbte Brauchtum nicht hegt und pflegt wird wie ein Haufen vom Baum gefallener Blätter vom Wind bald dahin, bald dorthin verweht und endet schließlich auf dem Müllhaufen der amorphen Massenmenschen.

Das zähe Festhalten an den althergebrachten Sitten war einer der ausschlaggebendsten Faktoren, die dem kleinen englischen Inselvolk die Herrschaft über beinahe ein Drittel der Erde verschafft hat; der es befähigt hat, die ungeheuren Gefahren zweier Weltkriege erfolgreich zu überwinden. Es ist nicht schwer festzustellen, welches Brauchtum für Tirol das charakteristische und sein Verhalten bestimmende ist. Es ist das Tiroler Schützenwesen.

Seit mehr als einem halben Jahrtausend repräsentierte sich Tirol in seinen friedlichen und kriegerischen Tagen durch seine Schützen. Der Zillertaler, der Unterinntaler, der Oberländer, der Ausferner, der Eisacktaler, der Pustertaler, Etschländer, der Ladiner, ja sogar der Welschtiroler Schütze fühlte sich trotz verschiedener Stammes- und Volksherkunft, trotz verschiedener Tracht, Mundart und Sprache immer in erster Linie als Tiroler. Ich konnte bei der Bearbeitung des Materials für mein Standschützenbuch zu meinem eigen Erstaunen feststellen, dass bei Ausbruch des Krieges mit Italien 1915 die welschtiroler Standschützen, trotzdem es sich um einen Kampf gegen ihre eigenen Volksgenossen handelte, genau so treu, tapfer und standhaft kämpften, wie die deutschtiroler Baone. Das vorwiegend ladinische Baon „Enneberg“ war in den vier schwersten Perioden des Kampfes um den Blutberg Col di Lana das eisern standhaltende Rückgrat der Verteidigung dieses historisch gewordenen Berges.

Der 1863 von der k.u.k. Armee durch Feldzeugmeister Freiherrn von Rossbach den Tiroler Schützen zur Erinnerung an die halbtausendjährige treue Kameradschaft gespendete schwere Armeeschild bezeugt die enge Verbundenheit der Tiroler Schützen mit der österreichischen Armee.

Nach dem Vorbild der Innsbruck Stadtschützen, die 1363 einen bayerischen Einfall abwehrten, entstanden auf dem Lande die „Landesschützen“ aus denen die später Kaiserschützen benannten Tiroler Landesschützenregimenter entstanden. Nach dem Vorbild der Stadtmiliz von Innsbruck die Landmiliz, aus der die Landesturmregimenter erwuchsen. Aus dem aus freiwilligen Tiroler Schützen zusammengesetzten Fennerjäger Korps entstanden die Tiroler Kaiserjäger Regimenter. Auf dem erwähnten silbernen Ehrenschild stehen als Gedenkjahre verzeichnet, in denen Tiroler Schützen für die Freiheit des Landes eintraten, die Jahre 1363, 1365, 1386, 1499, 1544 1552, 1633, 1703, 1796, 1799, 1805, 1809, 1813, 1849, 1859. Seither wären noch zu verzeichnen das Jahr 1866, in welchem General Kuhn der Hauptsache nach mit freiwilligen Tiroler Schützen Südtirol gegen den Einbruch der italienischen Armee und der Freischaren Garibaldis so erfolgreich verteidigte, dass das Land von der Kriegsfurie verschont blieb. Es besteht heute leider keine zusammenhängende Würdigung der damaligen Leistungen der Tiroler Schützen im erfolgreichen Kampf um die Freiheit der Heimat.

Es wären noch zu verzeichnen die Jahre 1915, 1916, 1917, 1918, in denen die Tiroler Standschützenbaone die Grenzen des Landes, ohne einen Schritt zu weichen, erfolgreich bis zum Zusammenbruch der k.u.k. Armee im Jahre 1918 verteidigt haben. Wieder war das Land durch die Standhaftigkeit der Tiroler und Vorarlberger Schützen von den Schrecken des Krieges, von wenigen Ortschaften abgesehen, bewahrt geblieben.

Es wäre zu verzeichnen das Jahr 1945, in welchem die durch Zwang eines Gewaltregimes zu den Waffen genötigten Standschützen, die Grenzen des Landes gegen die herannahenden Befreier nicht verteidigten, sondern freiwillig die Waffen niederlegten und nachhause gingen, weil sie sich vernünftigerweise gegen die Rettung aus Zwang und Not nicht wehren wollten.

Dieses scheinbar negative Verhalten, das aber sehr viel moralischen Mut erforderte, erfolgte bei den Tiroler Schützen instinktiv aus uralter Tradition heraus. Es war das einzig Richtige für die Rettung Tirols. Nach dem Plan der wie Ratten eingekesselten Nazibonzen hätte Tirol die „Felsenburg“, die letzte Stütze des zusammenkrachenden Systems bilden sollen. Die Folge wäre die vollständige Verheerung des schon durch die Fliegerangriffe schwer getroffenen armen Landes gewesen. Wieder war es der klaren Vernunft und dem Mut zur Sabotage der Tiroler Schützen zu danken, dass das Land zum größten Teil von Kriegsverwüstungen verschont blieb. Dies Verhalten der Schützen war darauf zurückzuführen, dass die seinerzeit von ihnen freiwillig gewählten Führer dem Volkssturm, der in Tirol um mehr Zugkraft zu haben unter den Namen Standschützen getarnt wurde, fernblieben, obwohl sie mehrfach wie auch der Verfasser sehr deutlich zum Mittun aufgefordert worden waren. Vielleicht bedeutet dieses letzte Verhalten der Tiroler Schützen die endgültige Abkehr vom Militarismus und den Beginn einer neuen Zeit.

Die zwei Weltkriegskatastrophen haben für jeden Einsichtigen den Krieg nicht nur als viel zu teures, sondern auch unzweckmäßiges Mittel der Politik erkennen lassen. Die Erfindung der Atombombe aber lässt den Krieg von vornherein als ein wahnwitziges Unternehmen erscheinen, das mit dem Untergang der Zivilisation, ja vielleicht der Menschheit und der Erde selbst enden würde.

Soll diese Überlegung auch das Ende des Tiroler Schützenwesens bedeuten, für das die kriegerische Betätigung in Hinkunft vollständig fehlen würde? Diese Frage ist ohne weiteres zu verneinen.

Es ist richtig, dass die angeborene Freiheitsliebe des Tiroler Gebirgsvolkes, das immer wieder die eigene Heimat schützte, das kleine Gebirgsland weltberühmt gemacht hat, lang bevor es einen Fremdenverkehr und einen Berg- und Skisport gab. Es war nicht selten, dass Briefe mit der Adresse Österreich in Tirol einlangten, ein Bruder des Verfassers besitzt solche aus Amerika und China. Der Fremdenverkehr begann, weil das Land durch die Taten seiner Söhne berühmt geworden war.

Wenn wir die Jahreszahlen auf dem silbernen Ehrenschild betrachten, erkennen wir mit einem Blick, dass die kriegerischen Ereignisse glücklicherweise nur sporadisch in der Geschichte vorkommende Episoden bildeten, dass aber in dem weitaus größeren Zeitraum Friede herrschte. Aber auch in diesen Zeiten des Friedens wurde Tiroler Eigenart bei seinen festlichen Anlässen immer durch seine Schützenkompanien und Musikkapellen repräsentiert. Auch heute noch.

Das Tiroler Schützenwesen beinhaltet stets mehr als nur die Pflicht, im Falle kriegerischer Angriffe von außen das Land zu schützen. Das Tiroler Schützenwesen ist auch mehr als eine bloß schießsportliche Organisation, obwohl es wieder Tiroler Schützen waren, die die Schießkunst der Tiroler so berühmt machten, dass z.B. der italienische Admiral Persano während der Schlacht bei Lissa sich von seinem Flaggschiff „Re d’Italia“ in den sicheren Panzertrum des „Affondatore“ überschiffen ließ, weil man ihm berichtet hat, dass 2.000 Tiroler Scharfschützen auf der österreichischen Flotte verteilt seien mit dem Auftrag Persano abzuschießen.

Die Nachricht, dass Tiroler Scharfschützen an der Tiroler Grenze stünden veranlasste, wie quellenmäßig feststeht, die Schweden im 30jährigen Krieg Tirol nicht anzugreifen. So überdauerte Tirol auch jene Schreckenszeit ohne Schaden nur durch den Weltruf von der Schießkunst seiner Schützen.

Andere Länder wie z.B. unser Nachbarland die Schweiz haben größere Schützenorganisationen als sie der Tiroler Landesschützenbund darstellte und sind wegen ihrer Schützen doch nicht so berühmt wie Tirol. Ein Vertreter des mehr als 20.000 Schützen umfassenden Schweizer Schützenbundes erklärte anlässlich der Durchführung des VIII. Österreichischen Bundesschießen in Innsbruck dem Verfasser wörtlich „Ich sehe, wir Schweizer Schützen können in sportlicher Hinsicht von den Tirolern noch manches lernen“.

Um zu erfassen, was eigentlich die Eigenart des Tiroler Schützenwesens ausmacht, muss man auf seine Ursprünge zurückgehen. Wie erwähnt haben die Tiroler Schützen schon im Jahre 1363, damals mit der Armbrust, die Freiheit ihres Landes verteidigt. Seit 1400 werden schon „Handbüchsen“ gebraucht und von der St. Lamberts Woche des Jahres 1432 wird berichtet, dass sich Innsbrucker Schützen „bei einem Schießen nach dem Ziele“ auf der „Zielstatt“ in Hall beteiligten, wobei die Stadt Hall ihnen eine „Ehrung“ gab. Es gab also schon vor mehr als einem halben Jahrtausend in Tirol Schießstände und Freischießen. Eine ganze Reihe Tiroler Schützengilden wie u.a. jene von Innsbruck, Hall, Schwaz, Kufstein usw. sind mehr als vierhundert Jahre alt. Ein solches Alter können in der Welt wohl nur wenige Sportorganisationen aufweisen.

Sehr bedeutungsvoll war es, dass in Tirol von Anfang an die Landesfürsten nicht für die Zwecke der Landesverteidigung, sondern zur eigenen Freude und Vergnügen das „Schießen“ förderten. Herzog Sigmund, der seit 1460 in Innsbruck residierte, bewilligte, wie es in einer Urkunde heißt, den Büchsenschützen zu Innsbruck „in jedem Jahr alle Wochen den ganzen Sommer“, ein Paar Hosen „mit den Püchsen darumb zu schießen“ Es herrschte also bereits im 15. Jahrhundert ein lebhafter Sportbetrieb. Im Jahre 1460 fand im August, wie es in der Urkunde heißt „zum Gefallen des Herzogs und zur Ehrung der Stadt Hall“ ein großes „Freischießen“ statt, an dem sich auch der Herzog selbst mit Ulrich von Freundsberg und seinem Büchsenmeister einfand. Auch die Pfeifer des Herzogs waren gegenwärtig und beauftragt, die Schützen zu „hofieren“. Dieses Freischießen zu Hall im Jahre 1460 war aller Wahrscheinlichkeit nach von bestimmter Bedeutung für das Tiroler Schützenwesen, das so ganz anders geartet ist als der Schießsport in anderen schießfreudigen Ländern. Hier beteiligte sich so viel wir wissen zum ersten Male der Landesfürst mit dem Adel, den Bürgern und Bauern an einem sportlichen Wettbewerb in wahrhaft demokratischer Weise. Und so blieb es. „Zu Innspruck am Pfintztag nach St.Andreas des Heiligen Zwelfpotn Tag anno 1499“ befahl Kaiser Max I. der letzte Ritter, den Innsbruck Büchsenschützen wieder das „Hosentuch“ wie unter Erzherzog Sigmund, „hinfüro alle Wochen den ganntzn Sumer bis auf widerruffen und wolgefalln“ zu geben.

Unter diesem Herrscher wurden zum ersten Male gezogene Gewehrläufe eingeführt. Maximilian der letzte Ritter der erfolgreiche Turnierheld war es, der die Waffe forderte, die das Ende des Rittertums bedeutete. Im Jahre 1506 gab Kaiser Max den Befehl, dass die Durchfuhr aller Handbüchsen, Handbögen usw. was von Innsbruck weg für seinen Hof bestimmt war, zu Wasser und zu Land im ganzen Reiche zollfrei und sonst aller Besteuerung frei sei und verbot 1507 die Armbrust für den Feldzug. Die ritterliche Waffe, die Lanze, wurde durch die „Pixe“ ersetzt und das Schützenwesen übernahm die ritterliche Tradition der Turniere.

Das Schießen wird in zahlreichen Urkunden als „ein lehrreich und ritterlich Spiel und Kurzweil“ bezeichnet und noch heute erinnern Worte der Schützensprache wie „rittern“, „stechen“, „Kranz“, „einlegen“, „Rennschuss“ an die Turniersprache der Ritter. Bezeichnend ist die Tatsache, die am klarsten das demokratische Schützenwesen kennzeichnet, dass sich in Tirol bei den Schießen jederzeit alle Stände einträchtig nebeneinander im sportlichen Wettkampf maßen. Im Jahre 1566 wurde ein Hoffestschießen veranstaltet, an dem 85 Schützen teilnahmen, darunter Erzherzog Ferdinand II., welcher 11 Treffer „erzielte“ und damit die „Sau“ gewann – daher der Ausdruck „Sau haben“ – das war ein Best von 10 Gulden, außerdem schossen Kardinal Andreas, der Sohn des Erzherzogs, der Markgraf von zu Burgau, Karl Graf von Zollern, der mit dem „Ritterschuß“ 20 Gulden gewann. Von Niederösterreich schossen 11 Schützen mit Herzog Ernst an der Spitze, von Bayern 14 Schützen, darunter die Herzoge Wilhelm und Ferdinand von Bayern, der Prinz von Mantua und der Herzog von Leuchtenberg.

Am 11. Jänner 1567 hielt Ferdinand II., der viele große Freischießen veranstaltete seinen feierlichen Einzug in Innsbruck, wobei ihm 7 Fähnlein Tiroler Schützen entgegen zogen und mit ihren Luntengewehrsalven begrüßten, während die Büchsenmeister von Berg Isel die schweren Geschütze krachen ließen. Schützenkompanien, Musikkapellen und Böllerkrachen bildete, wie man sieht seit vierhundert Jahren das Hauptcharakteristikum eines Tiroler Festes. Die Teilnahme der Fürsten und Kaiser an den Freischießen hatte eine sehr gute erzieherische Wirkung. Auf den Schießständen mussten sich die Schützen anständig betragen, durften nicht fluchen, lästern oder Radau schlagen. Jeder Schütze war verpflichtet jedem anderen, der ihn um „Schützenhilfe“ ersuchte, diese sofort zu leisten. Das war noch in der letzten Zeit auf den Tiroler Schießständen eine selbstverständliche Pflicht, so wie es selbstverständlich war, dass die Funktionäre der Schützengesellschaften ihre Pflicht ehrenamtlich versahen. Auf dem Schießstande ließen auch die Kaiser und Erzherzoge aus dem Hause Habsburg die spanische Etikette beiseite. Kaiser Franz, der Gemahl der Kaiserin Maria Theresia, gab auf dem Innsbrucker Schießstand den letzten Schuss seines Lebens ab, die Scheibe ist noch erhalten.

Ebenso schossen in Innsbruck Kaiser Franz I., der Zar Alexander II. von Russland, der König von Neapel, Kaiser Ferdinand, Kaiser Franz Josef I. Auf den Tiroler Schießständen gab es keine Rangordnung. Der Kaiser schoss neben einem Bauernknecht, der Großindustrielle neben dem Hilfsarbeiter, der Statthalter neben dem Amtsdiener. Ein Oberländer Schütze, ein kleiner Bergbauer aus dem Ötztal, drückte dies treffend mit dem Ausspruch aus: „Schützenlöbe ischt a Hearelöbe.“ Im Jahre 1915 wurden von den Standschützen zu Bataillonskommandanten die nach ihrer Meinung dazu geeignetsten gewählt, wie Tacitus von den Germanen schrieb: „Ihre Führer wählen sie nach ihrer Tüchtigkeit“. Es gab Bezirkshauptmänner, Bauern, Wirte, Hoteliers, Briefträger als Bataillonskommandanten und der Briefträger hat im Feld seine Sache genauso gut gemacht wie der Bezirkshauptmann.

Dass Ordnung und Zucht auf den Schießständen herrschte, wurde durch strenge Verordnungen erreicht. Unter der Regierung der Erzherzogin Claudia wurde folgendes Dekret herausgegeben: „Demnach vorkhombt das Son- und Feyrtags auf der Schiesshitn allhie (in Innsbruck) allerhandt Unglegenheiten fürgehen, indeme neben den Schitzen sich allerlay Liederlüche Bursch und Biebach (Buben) alda einmischen und mitspillen, Scholdern, Zankhen und schweren. Ier Exerzitium treiben, so innen khaineswegs zuverstaten. Als Jez im Namen der o.ö.Regierung gemessner Bevelch hiemit, das Georg Koch Hof Provoss Jakob Pernlocher und Hans Jacob Schmid Stattrichter allhier Ir vleissige obacht und visita halten, und da Sye ausser der Schützen dergleichen Bursch obverstantermassen betreten, selbige alsbaldt aufhöben und andern zum Exempel in verhafft nehmen solln“.

Im 18. Jahrhundert florierte das Schützenwesen besonders. In der Schützenordnung von 1735 heißt es, dass „alle und jede ehrliche Manns-Persohnen von Ritter, Adel, Burgerschaft und Gemaid ledig- oder verheiratetheten Stands“ sich auf dem Schießstande zu dem edlen ritterlichen Wettkampfe einfanden. Alle Jahr wurde oder sollte ein gemeinsames Schützenmahl abgehalten werden, eine Sitte, die sich in Südtirol bis vor dem Weltkrieg erhalten hat, während in Nordtirol als Schlussfeier einer Schießsaison Nussen-, Zelten- oder Krapfenschießen bis zur Nazizeit veranstaltet wurden. So war also das Tiroler Schützenwesen schon seit Jahrhunderten eine wahrhaft demokratische Einrichtung und blieb es bis in die neueste Zeit. Auf dem Schießstand war jeder Schütze gleichberechtigt, nicht nur hinsichtlich des Standes, sondern auch in Bezug auf die Parteizugehörigkeit.

Ich habe in der Zeit nach dem Weltkrieg an vielen Schießen in Tirol teilgenommen, aber bei keinem kam es auch zur Zeit der größten politischen Aufregung zu politischen Auseinandersetzungen. Ich sah mit eigenen Augen, wie der Heimatwehrmann dem Nazi Schützenhilfe leistete und umgekehrt, so wie auch der „Schwarze“ dem „Roten“ und umgekehrt. Trotzdem das VIII. österreichische Bundesschießen im Juni 1937 von der Nationalsozialistischen Partei im Reiche absolut boykottiert wurde um einen Misserfolg herbeizuführen, arbeiteten viele einheimische Nationalsozialisten opferbereit mit, sodass das Schießen in dieser kritischen Zeit nicht nur ohne den leisesten Misston verlief, sondern mit einem schönen sportlichen und finanziellen Erfolg abschloss. Nationalsozialistische Schützen aus Kärnten erklärten, während das von der Gauleitung mit einem Riesenauftrieb von Schützen 1943 veranstalteten Landesschießen ganz offen auf dem Schießstand, dass das schönste Schießen doch das VIII. österreichische Bundesschießen gewesen sei.

Es ist wichtig, noch auf eine besondere Eigenheit des Schießsportes hinzuweisen. Es wird allgemein mit Recht geklagt, dass die heutige Jugend sich häufig flegelhaft und unehrerbietig den Erwachsenen gegenüber benimmt. Die psychologische Ursache für diese höchst unerfreuliche Erscheinung liegt nach meiner Meinung in der Entwicklung der heute besonders im Schwange befindlichen Sportarten. Skilaufen, Fußballspielen und Boxen. In allen diesen Sportarten kann begreiflicherweise nur der junge Mann auffallende und bestaunte Leistungen erzielen, ist aber gewöhnlich dann in der Mitte seines Lebens mit dem Herzen fertig. Mit einem jungen Mann kann sich beim Schifahren, Boxen, Fußballspielen naturgemäß ein Mann von 40 bis 50 Jahren, obwohl er in der Blüte seiner Männlichkeit steht, nicht mehr messen und wird daher von den Jungen als „erledigt“, als „verknöchterter alter, verkalkter Tepp“ usw. angesehen. Und der „Alte“, der nicht mehr 50 m springen kann, der nicht mehr boxen oder auf dem Fußballfeld herumlaufen mag, schon weil er sich nicht lächerlich machen will, fühlt selbst in sich einen Minderwertigkeitskomplex entstehen.

Dies wirkt sogar auf die Politik zurück, wobei die Wirkung durch das oft nicht sehr würdige Werben der politischen Parteien „um die Jugend“ verstärkt wird. Das Scheibenschießen ist aber im Gegensatz zu den obgenannten Sportarten der Sport des erwachsenen, selbstbeherrschten Mannes, denn erfolgreiches Schießen setzt sehr weitgehende körperliche und seelische Selbstbeherrschung voraus. Das beste Schützenalter ist daher das Mannesalter zwischen 40 und 60 Jahre, viele Schützen leisten sogar noch im Alter von 70 und 80 Jahren Erstaunliches, meist Besseres als die noch mit „Jungschützenfieber“ behafteten Jungen. Ein Beispiel soll zeigen, was ich meine. Ich schoss im Jahre 1937 auf dem Schießstande in Zirl, als ein junger Bursche nicht gerade frech aber doch in unbescheidener Art zu mir sagte: „Ich kann schon auch schießen“. Ich sagte daraufhin: „So! Du kannst auch gut schießen. Da hast Du zwei Schilling und hol dir einen Schusszettel, dann darfst du mit meinem Gewehr und meiner Munition schießen.“ Der Bursche „erzielte“ aber so mindere Ergebnisse, dass er sich nach Abgabe von zehn Schuss beschämt davon schlich, obwohl er von niemandem verspottet worden war, denn das ist auf den Tiroler Schießständen streng verboten.

Die jungen Schützen werden daher auf den Schießständen ohne besondere Ermahnungen selbst zur Bescheidenheit gegenüber den alten Schützen erzogen. Das ist gerade heute für die wegen Abwesenheit der Väter im Krieg etwas verwilderte Jugend besonders wünschenswert. Besonders wertvoll ist aber die Ehrung der Alten, die durch den Minderwertigkeitskomplex verlieren, weil alt nicht mehr brauchbar zu sein und minder geachtet zu werden.

Alle klugen Völker der Geschichte haben am höchsten die alten erfahrenen und dadurch weise gewordenen Menschen geehrt. Auch das war im Tiroler Schützenwesen immer Brauch. Ich erinnere mich an ein Schießen in Wörgl, wo für die Schießsaison 1936 – 1937 ein alter über 70jähriger Arbeiter und armer Altersrentner „Schützenkönig“ wurde. Im größten Saal Wörgls fand seine Ehrung unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Die Schützenkönig-Würde wurde ihm feierlich übertragen und er durfte sich von den für das Schießen gespendeten Geschenken das Beste – daher der Ausdruck Best – aussuchen. Es war vielleicht für den bescheidenen Mann der schönste und ehrenvollste Tag seines Lebens.

Der französische Philosoph Le Bon hat in seinem berühmten Buche über die „Psychologie der Masse“ geschrieben, dass ein Volk, das eine besondere Vorliebe für irgendetwas hat, zu dieser Vorliebe immer wieder zurückkehren wird, mögen auch politische Umwälzungen welcher Art immer dies erschweren. Dieses Wort hat sich nach dem ersten Weltkrieg in der überraschendsten Weise bewahrheitet. Die Standschützen, die von Mai 1915 bis zum Zusammenbruch 1918 Tirol so tapfer und erfolgreich verteidigt hatten, waren während des Krieges von sehr vielen Angehörigen der k.u.k. Armee sehr schlecht und verletzend behandelt und nach ihrer Heimkehr noch verspottet und verlacht worden. Der Missmut der Schützen war daher groß und sehr viele erklärten, sie wollten mit dem Schützenwesen überhaupt nichts mehr zu tun haben.

Es trat eine starke Krise im Schützenleben ein, zumal auch durch den Friedensvertrag von St. Germain vom 10. September 1919 die Landesgesetze vom 25. Mai 1913, betreffend die Landesverteidigungs- und Schießstandordnung aufgehoben und alle k.k. Schießstände aufgelöst wurden. Es schien das Ende des Tiroler Schützenwesens gekommen zu sein, aber es war dem nicht so.

Seit Jahrhunderten hatte der Landeshauptmann von Tirol, traditionsgemäß von den Schützen gewählt, die Stellung eines Landesoberstschützenmeisters inne und bei der Landesregierung bestand das Landesoberschützenmeisteramt, bestehend aus einem Schützenreferenten. Der damalige Landeshauptmann Josef Schraffl beließ das Oberstschützenmeisteramt, das zuerst von J.E. Bauer und später von Josef Plaseller als Schützenreferent der Landesregierung verwaltet wurde und begrüßte im November 1920 eine Festversammlung in Innsbruck in seiner Eigenschaft als Landesoberstschützenmeister. Mit Verordnung der Tiroler Landesregierung vom 10. Juni 1921, L.H.Nr. 85 wurden den aufgelösten Schießstandsorganisationen einschließlich der Schießstände samt allem zugehörigen Eigentum jenen Schützengesellschaften übereignet, welche sich zur Pflege des Schießwesens auf Grund des Vereinsgesetzes vom 15. November 1867 R.G.Bl. Nr. 134 gebildet hatten. Bewährte Schützen, wie Anton Plattner in Jenbach, Hofrat Rauch und Hofrat An der Lan in Innsbruck, Riedl und Staffler in Kufstein, Turri in Reutte, Handl in Landeck, Schmid in Ötz, Pittl in Stubai, Hummel in Schwaz, Angerer im Zillertal, Pichler in Wörgl, Hausberger in Mayrhofen, Muigg in Steinach, begannen trotz widriger Verhältnisse (Inflation, hoher Preis der Munition) wieder, oft in Gemeinschaftsarbeit, die halbzerfallenen oder durch Einquartierung beschädigten Schießstände herzurichten und Schießen abzuhalten. Das Schießwesen blühte so auf, dass es der Tiroler Landesschützenbund wagen konnte im Jahr 1937 das VIII. österreichische Bundesschießen durchzuführen, obwohl das in Salzburg abgehaltene VII. österreichische Bundesschießen mit einem Defizit von 120.000 Schilling geendet hatte.

Anfangs 1938 waren in Tirol wieder über 4.000 eingetragene Schützen sportlich tätig. Die nationalsozialistischen Führer schätzten die Bedeutung des Schützenwesens richtig ein und suchten es, wie alles andere für ihre Parteizwecke auszunützen. Sie drehten unter großem Kostenaufwand den Film „Schandschütze Bruggler“ und versuchten nach der Machtübernahme durch befohlenen Massenbesuch der Schießen propagandistisch zu wirken, erreichten aber das Gegenteil. Die alten aufrechten Schützen wurden zum Großteil ausgeschaltet und nur jene, deren Erfahrung unentbehrlich war unter Drohungen gezwungen mitzuarbeiten. Dieser Massenauftrieb bei den Schießen widerte aber selbst die Nationalsozialisten, soweit sie wirkliche Schützen waren, so an, dass sie laut ihrem Missmut Ausdruck verliehen. Diese Methode der Nationalsozialisten hätte das Tiroler Schützenwesen schließlich zugrunde gerichtet. Nur ein Gutes haben die Nationalsozialisten hinterlassen. Durch die reichlichen Geldmittel, die ihnen zur Verfügung standen, wurde der Landeshauptschießstand, der schon im Jahre 1937 über meine Veranlassung eine moderne Kleinkaliberanlage erhalten hatte, so ausgebaut, dass er heute vielleicht die größte und modernste schießsportliche Anlage Europas darstellt, die zum Zentrum des modernen Schießsportes für Mitteleuropa gemacht werden kann.

Da die nächste Olympiade im Jahr 1948, wie verlautbart, in Lausanne, also in der benachbarten Schweiz abgehalten werden soll, käme der Tiroler Landeshauptschießstand für die Trainings- und Auswahlschießen in erster Linie in Betracht, was eine nicht unbedeutende Förderung des Fremdenverkehrs in Tirol bedeuten würde. Die Statistik der Meisterschützen zeigt unverkennbar, dass die feinmechanischen Berufe, wie die der Uhrenmacher, Feinmechaniker etc. die relativ höchste Zahl der erfolgreichen Meisterschützen aufweisen.

Gutes, geübtes Auge und eine ruhige Hand sind ja Voraussetzungen für diese Berufe und es ist kein Zufall, dass gerade die Schweiz mit ihren großen Schützenvereinen beinahe das Weltmonopol der Erzeugung von Uhren und ähnlicher feinmechanischer Apparate errungen hat. Die Spezialbegabung des Tiroler Volkes ist für die Feinmechanik. Nähmaschine, Elektromotor, Zwei- und Viertaktmotor wurden in Tirol von einfachen Handwerkern erfunden und dann von der Großindustrie anderer reicher Länder finanziell ausgewertet. Die Förderung dieser spezifischen Tiroler Begabung ist daher höchst wünschenswert und da der Schießsport das Auge übt und die Nerven der Hand zur Ruhe erzieht, ist es der gegebene Sport für die Tiroler. Nebenbei konnte ich feststellen, dass nichts nach anstrengender und ärgerlicher Tagesarbeit so beruhigt und entspannt als das Bolzschießen mit guten Kameraden und einem echten Tropfen Tiroler Wein.

Die starke Konzentration auf das Schießen entlastet die während des Tages überanstrengten anderen Gehirnpartien und ein Glas Wein erfrischt und erheitert das Gemüt und schafft Zufriedenheit. Das ist aber in der heutigen Zeit besonders wertvoll. Zufriedene Menschen verursachen keine Unruhen. Das wäre das wichtigste Ziel des Tiroler Schützenwesens und bildet seine Aufgabe für das Land Tirol.

Für den historischen Teil habe ich u.a. das Buch des ehemaligen Schützenreferenten der Tiroler Landesregierung J. E. Bauer „Innsbrucker Schützenwesen und Schützenfeste“ sowie Aufzeichnungen seines Nachfolgers Josef Plaseller benützt.